Plädoyer für einen Perspektivenwechsel

29.04.22 | Fokus Unternehmensführung

Plädoyer für einen Perspektivenwechsel

Wo Menschen aufeinandertreffen, gibt es soziale Interaktion. Diese verläuft dann positiv, wenn die gegenseitige Bereitschaft vorhanden ist, die Sichtweise des anderen einzunehmen. Der Verhaltensökonom und Behaviour Designer Gerhard Fehr ist überzeugt, dass Perspektiveneinnahme ein Schlüsselement ist, um im Leben und im Beruf erfolgreich zu sein. Im Interview beleuchtet er verschiedene Aspekte des Perspektivenwechsels im Zusammenhang mit der beruflichen Ausrichtung von Zahnärztinnen und Zahnärzten auf der einen und der Praxisführung auf der anderen Seite.

 

 

Perspektivenwechsel als Grundelement der Verhaltensökonomie


Herr Fehr, die Fähigkeit, eine andere Perspektive einzunehmen, hat in der sozialen Interaktion – also in privaten und geschäftlichen Beziehungen – eine enorme Bedeutung. Weshalb?

Menschen, die die andere Perspektive zum Nutzen des Gegenübers einnehmen, können das Beste aus einer Situation machen und auf diese Weise nachhaltigen Wert für beide Seiten schaffen. Je systematischer sie dies tun, desto erfolgreicher sind sie im Leben. Sie sind gesünder, haben mehr Freunde und kommen in ihrer beruflichen Tätigkeit schneller voran.

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Gerhard Fehr:
Verhaltensökonom und Behaviour Designer

Gerhard Fehr ist CEO des international vernetzten Beratungsunternehmens FehrAdvice mit Standorten in Zürich und Wien. Er ist Experte für Verhaltensökonomie, in welcher der Perspektivenwechsel eine wichtige Rolle spielt. Gerhard Fehr und sein Team arbeiten eng mit dem Departement of Economics der Universität Zürich zusammen, die im Bereich Verhaltensökonomie forscht und in den letzten 40 Jahren im Rahmen von unzähligen Feld- und Laborexperimenten einen umfangreichen evidenzbasierten Fundus bezüglich menschlichen Verhaltens geschaffen hat. Heute gilt die Universität Zürich als internationaler Hub für Verhaltensökonomie.

Worum geht es bei einem Perspektivenwechsel konkret?

Es ist die Kunst, sich in die Schuhe des Gegenübers zu versetzen. Das heisst, sich bewusst zu machen, was sein Gegenüber denkt, welche Anreize es hat und wie sich das Gegenüber verhalten wird. Auch welche Beweggründe hinter diesem Verhalten stecken. Sind diese kognitiver Natur oder verbirgt sich eine Motivation dahinter?

 

Was genau ist der Unterschied zwischen kognitiv und motiviert?

Menschen haben Glaubensgrundsätze, in der Ökonomie Beliefs genannt. Ein kognitiver Belief ist aus einer Überzeugung heraus entstanden, die wiederum auf Informationsaufnahme beruht. Ein motivierter Belief basiert auf Eigennutz: Ich will etwas glauben oder nicht glauben, weil ich in dieser Haltung einen Nutzen für mich selber erkenne.

 

Was heisst das zum Beispiel für die Interaktion zwischen Zahnärztinnen und Patienten?

Nehmen wir an, ein Patient vernachlässigt die Pflege seiner Zähne. Wenn wir davon ausgehen, dass es sich dabei um einen kognitiven Belief handelt, kann der Zahnarzt den Patienten mit Informationen vom Sinn einer guten Zahnpflege überzeugen. Zum Beispiel mit gesundheitlichen oder ästhetischen Argumenten.

 

Was wäre im Gegensatz dazu ein motivierter Belief?

Ein motivierter Belief liegt vor, wenn beispielsweise ein Kind das regelmässige Zähneputzen verweigert – es findet es einfach nur blöd. In diesem Fall bringen Informationen nichts. Vielmehr muss das Anreizsystem verändert werden. Das kann die Zahnfee sein, die das Zähneputzen mit einem kleinen Geschenk honoriert.

 

Es geht also in beiden Fällen darum, eine Verhaltensänderung zu bewirken …

Genau. Der Perspektivenwechsel ermöglicht es, die Interessenlage des Gegenübers zu erkennen und dementsprechend zu reagieren. Es gibt aber nicht nur die Einnahme der Perspektive der anderen, sondern auch die Perspektive von sich selbst.

 

Das klingt etwas merkwürdig …

Die Einnahme der eigenen Perspektive ist weder pathologisch noch speziell. Es ist Teil unseres Menschseins, dass wir als Menschen mehrere Identitäten haben, die sich im Laufe des Lebens entwickeln und nicht zwingend konstant vorhanden sind.

 

Was sind das für Identitäten?

Da gibt es beispielsweise eine geschlechtliche Identität, eine familiäre Identität, eine berufliche Identität und viele weitere. Die Identität, die wir jeweils situativ annehmen, bestimmt unser jeweiliges Verhalten. Gut zu erkennen sind diese unterschiedlichen Rollen im familiären Umfeld. So verhalten sich Grosseltern in der Grosselternrolle anders als in ihrer Rolle als Eltern gegenüber ihren eigenen Kindern.

 

Lässt sich dieser Wechsel der Identität kontrollieren?

Wir müssen versuchen, uns über die Identität, die wir im Kontext mit verschiedenen Lebenssituationen einnehmen, klar zu werden. Es ist zum Beispiel enorm wichtig, sich bewusst zu sein, in welcher Identität man Entscheidungen trifft. Menschen, die sich durch die Einnahme der Eigenperspektive ihre jeweilige Identität ins Bewusstsein rufen, sind im Schnitt erfolgreicher, Denn sie sind in der Lage, ihr Verhalten situationsgerecht zu adaptieren.

 

 

Die eigene Zahnarztpraxis als mögliche Zukunftsperspektive


Herr Fehr, das Karrierebild vieler junger Zahnärztinnen und Zahnärzte hat sich verändert. War früher den meisten klar, dass sie dereinst ihre eigene Praxis eröffnen, neigen sie heute dazu, lebenslang angestellt zu sein. Wie erklären Sie sich das?

Es hat möglicherweise damit zu tun, dass die Bereitschaft, hart zu arbeiten, generell abgenommen hat. Der Arbeitsmarkt ist aktuell ein Arbeitnehmermarkt. Dies erlaubt es vielen Berufstätigen, mit weniger Arbeit gleich viel oder mehr zu verdienen.

 

Gilt dies auch für angestellte Zahnärztinnen und Zahnärzte?

Es ist sicher so, dass sie als Angestellte im Vergleich zu Berufstätigen vieler anderer Branchen ein hohes Einkommen generieren. Sie haben einen sicheren Arbeitsplatz und geben sich mit diesen Vorteilen einer Festanstellung zufrieden. Sie unterliegen einem ganz anderen Anreizsystem als jene Zahnärztinnen und Zahnärzte, die mit der Selbständigkeit liebäugeln.

 

Wie liessen sich zögernde Zahnärztinnen und Zahnärzte für die Zukunftsperspektive Selbständigkeit begeistern?

Da braucht es ein anderes Anreizsystem, das eben nicht primär von finanziellen oder sicherheitsorientierten Aspekten geprägt ist. Selbstverständlich spielt Geld immer eine wichtige Rolle, aber neben finanziellen Anreizen gibt es auch Anreize sozialer und psychologischer Natur. Es ist Mix. In der Verhaltensökonomie sprechen wir von Komplementarität.

 

Welches sind die Anreize, die zur Gründung einer eigenen Zahnarztpraxis führen können?

Ein starkes Argument sind die Freiheitsgrade und die Flexibilität, die die Selbständigkeit mit sich bringt. Im Vordergrund stehen die Gestaltungsmöglichkeiten im Leben und im Beruf. Experimente an der Universität Zürich haben nachgewiesen, dass manche Menschen bereit sind, für diese Freiheiten einen hohen Preis zu bezahlen, zum Beispiel auf Sicherheit zu verzichten und ein unternehmerisches Risiko einzugehen.

 

Zahnärztinnen und Zahnärzte sind in erster Linie hoch qualifizierte Fachkräfte. Müssen Sie als Selbständige auch Unternehmerin respektive Unternehmer sein?

Damit sind wir wieder bei Thema Identitäten. Man könnte von einer Zahnarzt-Identität und einer Unternehmer-Identität sprechen. Sicher müssen Zahnärztinnen und Zahnärzte diese Unternehmer-Identität annehmen, wenn sie sich selbständig machen wollen. Die Unternehmer-Identität setzt eine geringe Risikoaversion voraus, wie auch die Bereitschaft, einen zusätzlichen Effort zu leisten.

 

Die Unternehmer-Identität verlangt auch nach einer betriebswirtschaftlichen Perspektive …

Das ist so. In der Selbständigkeit gibt es wichtige betriebswirtschaftliche Entscheidungen, die mit Vorteil in der Unternehmer-Identität und nicht in der Zahnarzt-Identität getroffen werden sollten. Von solchen Entscheidungen hängt es ab, ob die Zahnarztpraxis rentiert.

 

Das wäre dann doch ein finanzieller Anreiz?

Es ist die erwähnte Komplementarität der Anreize. Allerding sind viele medizinische Fachpersonen der Meinung, dass wirtschaftliches Denken nicht im Sinne der Patienten sei. Das Gegenteil ist der Fall: Der ehrenwerte Kaufmann – oder der Zahnarzt in der Kaufmann-Identität – ist derjenige, der in den überwiegenden Fällen im Sinne des Kunden, respektive des Patienten handelt.

 

Wir schätzen Sie die Chancen ein, dass das Projekt Selbständigkeit für Zahnärztinnen und Zahnärzte zum Erfolg führt?

Die Führung einer Zahnarztpraxis ist deutlich weniger risikobehaftet und die Ertragspotenziale sind um vieles höher als in anderen Branchen. Entsprechend besser sind die Erfolgsaussichten. Aus langfristiger Perspektive betrachtet, erarbeitet die Zahnärztin oder der Zahnarzt mit der eigenen gut gehenden Praxis einen Wert, der sich zu einem späteren Zeitpunkt veräussern lässt. Angestellte Zahnärztinnen und Zahnärzte müssen sich mit den üblichen Leistungen der Altersvorsorge zufriedengeben.

 

 

Perspektivenwechsel als Erfolgsfaktor im Praxisalltag


Herr Fehr, wie kann ein Perspektivenwechsel die Interaktion zwischen der Zahnärztin oder dem Zahnarzt und dem Patienten in positivem Sinn verändern?

Es genügt nicht, der Patientin oder dem Patienten in den Mund zu schauen, eine Diagnose zu stellen und mit der Behandlung zu beginnen. Perspektivenwechsel heisst, die Sichtweise der Patienten zu übernehmen und ihrer Werthaltung und ihren Präferenzen auf die Spur zu kommen.

 

Konkret?

Die Zahnärztin oder der Zahnarzt muss im Gespräch herausfinden, in welcher Beziehung die Patientin oder der Patient zu ihren respektive seinen Zähnen steht. Welchen Stellenwert räumt sie oder er schönen, gesunden Zähnen ein, zum Beispiel im Hinblick auf den Job? Ist sie oder er bereit, in die Zähne zu investieren, und wenn ja, wie nachhaltig? Aus den Antworten geht hervor, was für ein Behandlungsvorschlag angezeigt ist.

 

Der Zahnarztbesuch wird in der Regel nicht als positives Erlebnis wahrgenommen. Was könnte ein Perspektivenwechsel daran ändern?

Ich würde differenzieren: Der regelmässige Kontakt mit der Zahnarztpraxis im Zusammenhang mit der Dentalhygiene ist per se nichts Negatives. Abschreckend ist nicht der Besuch, sondern eher die Befürchtung, dass etwas mit den Zähnen nicht in Ordnung sein könnte.

 

Also ist der Zahnarztbesuch doch eher negativ konnotiert?

Wer seine Zähne gerne und gut pflegt, dürfte der Kontrolle gelassen entgegensehen, da sie oder er ein positives Feedback erwarten dürfen. Anders natürlich jene Patientinnen und Patienten, die ihre Zahnpflege vernachlässigt haben. Die Frage ist, wie es sich bewerkstelligen lässt, auch diesen ein positives Feedbackelement zu vermitteln.

 

Wie?

Auch hier braucht es einen Perspektivenwechsel. Kein Patient will hören, dass er die Zähne wieder nicht gut genug gepflegt hat. Als Reaktion darauf verschiebt er im Kopf den nächsten Zahnarztbesuch um zwei Monate nach hinten.

 

Was wäre ein positives Feedbackelement?

Positiv wäre: Ich sehe, dass Sie sich bei der Zahnpflege mehr Mühe gegeben haben. Sie können aber noch mehr erreichen. Machen Sie weiter so.

 

Nun gibt es bekanntlich viele zahnmedizinische Behandlungen, die bei aller Professionalität und Sorgfalt der Zahnärztin oder des Zahnarztes für den Patienten unangenehm sind. Wiederum ein Faktor, der den Zahnarztbesuch als eher negatives Erlebnis erscheinen lässt.

Man fühlt sich hilflos ausgeliefert, wenn man auf dem Zahnarztstuhl liegt, und muss unangenehme Reize oder gar Schmerzen ertragen. Das liegt in der Natur der Sache, auf die die Zahnärztin oder der Zahnarzt nur bedingt Einfluss nehmen kann. Die Chance, dass die Behandlung trotzdem einen positiven Eindruck hinterlässt, bietet sich am Ende der Sitzung.

 

Und die wäre?

Die letzten fünf Minuten müssen so gestaltet werden, dass sie positiv erinnert werden und der positive Moment im Gedächtnis abgespeichert wird. Bei einem Perspektivenwechsel spielt Empathie eine wichtige Rolle. Zum Beispiel vermittelt es der Patientin oder dem Patienten ein gutes Gefühl, wenn die Zahnärztin oder der Zahnarzt Anteilnahme signalisiert, die Geduld würdigt und sich für das Vertrauen bedankt.

 

Intensive soziale Interaktion findet auch zwischen der Zahnärztin oder dem Zahnarzt und den Mitarbeitenden statt. Diese wiederum interagieren in intensiv mit den Patienten. Was bringt ein Perspektivenwechsel in der Personalführung?

Qualifizierte Mitarbeitende wünschen sich Einflussmöglichkeiten. Sie sind viel motivierter, wenn man sie nicht einfach ihre Arbeit tun lässt, sondern sie in die Entwicklung des Geschäfts mit einbezieht. Zum Beispiel, indem man sie dazu ermutigt, Ideen und Verbesserungsvorschläge einzubringen, die die Zahnarztpraxis voranbringen. Das ist das eine.

 

Das andere?

Wenn es den Mitarbeitenden gelingt, die Sichtweise der Patientinnen und Patienten einzunehmen und ihr Verhalten danach ausrichten, resultieren daraus zufriedene Patienten. Es entsteht eine Wechselwirkung, eine Art Aufwärtsspirale: Die Einnahme der Patientenperspektive bringt glückliche Patienten und Patienten hervor, und glückliche Patienten machen das Praxisteam glücklich.

Zahnärztekasse AG: Perspektiveneinnahme auf drei Ebenen

Für die Zahnärztekasse AG ist die Sichtweise der Kundinnen und Kunden, der Praxismitarbeitenden sowie der Patientinnen und Patienten die Leitlinie für die Ausrichtung ihrer Tätigkeit.

  • Zahnärztinnen und Zahnärzte verfügen dank eines professionell organisierten Honorar-Managements stets über ausreichende Mittel und sind vor Debitorenverlusten wirksam geschützt. Zudem verschafft ihnen die Vorfinanzierung von Honorarnoten finanzielle Flexibilität.
  • Das Outsourcing des Honorar-Managements entlastet die Mitarbeitenden im Praxisteam von administrativen Aufgaben und ermöglicht es ihnen, sich ganz auf die Betreuung der Patientinnen und Patienten zu konzentrieren.
  • Patientinnen und Patienten werden von speziell geschulten Mitarbeiterinnen der Zahnärztekasse AG bei der Finanzierung von zahnmedizinischen Behandlungen kompetent beraten und profitieren bei Bedarf von attraktiven Finanzierungsmodellen wie Teilzahlung.